Mittwoch, 3. Oktober 2012

Das weiße Kleid

Das weiße Kleid


Zeitlupe
Als ich etwa zehn Jahre alt bin, bekomme ich ein weißes, luftiges Sommerkleid. Es ist mit Schrift bedruckt und erinnert mich an Zeitungen, Zeitschriften und die große weite Welt. Wir haben Verwandte in Übersee, Amerika, Argentinien, Schweden. Das Kleid wirkt brav und gleichzeitig hübsch, luftig, hat einen schwingenden Rock. Oben mit einem kleinen Kragen eng geschlossen, kurze, angeschnittene Ärmel, weist es frisch, frech und keck in die weite Welt. Ich bin stolz und glücklich damit. Noch keine Frau, die Brust flach und der Kragen hochgeschlossen, aber knie kurz, läßt es meine Beine frei und der Rock hat Schwung und gibt meiner Bewegungsfreude genügend Raum. Die Freude kurz vor dem Ausbruch der Weiblichkeit, noch ungehindert von allem, was Angst machen könnte. Gefühle wie der Wind . Du kannst in die Welt hinaus laufen und wirst trotzdem geliebt und fühlst dich zugehörig, welch eine Aussicht auf’s Leben, das sich vor mir ausbreitet . In der Schule fange ich an, eine Schülerzeitung zu schreiben, bekomme auch ein paar Exemplare zustande, mit Artikeln und Rätseln.
Nach der Schule, nach dem Mittagessen und den Hausaufgaben, setze ich mich hin und tüftele an meiner Zeitung herum. Nach dem Muster der Fortsetzungsromane in der Tageszeitung will ich auch einen Roman schreiben. Mit großem Elan fange ich an, gebe aber nach einigen Seiten auf. Mein Bruder Michael macht seinen Bundeswehr Dienst bei der Marine. Er trägt bei seinen Aufenthalten zu Hause eine todschicke weiße Uniform, schreibt Karten aus Spanien, Cadiz, z.B. Ich sammle die Briefmarken, hab schon eine große Sammlung an Briefmarken, die ich von den Briefen der Verwandten aus Südamerika, Nordamerika und Schweden mit Wasserdampf ablöse. Es gibt so Vieles, was ich jetzt schon kann, durch die Briefmarken kommt die weite Welt zu mir, ich lese und lese und lese, jetzt auch schon mal Karl May oder Lederstrumpf und andere Abenteurer-Klassiker der ganzen Welt. Auch Asien, Indonesien sind die Schauplätze meiner Lektüren. Ich bekomme einen Brieffreund aus Japan.Mit ihm korrespondiere ich einige Jahre lang, in großen Abständen. Und dann das Schreiben und die Versuche einer Zeitung. Ich schwelge in dem Gefühl, was ich später alles machen kann, wenn ich groß bin. Erstmal will ich Stewardess werden. Im Flugzeug.

Wenn das mein großer Bruder wüsste
Zu der Zeit des weißen Kleides verbringe ich meine Sommerferien auf dem Land bei Verwandten, und mit meiner Cousine höre und singe ich Schlager von Conny Froboess und Peter Kraus. Ich liebe die helle Stimme von Conny, etwas frech und knabenhaft. „Wenn die Conny mit dem Peter“, und “Wenn das mein großer Bruder wüsste“. Wir singen die Lieder draußen und drinnen, inszenieren Auftritte und spielen in der Phantasie schon erste Verliebtheiten durch.
Meine Brüder hören Jazz „Papa Bue’s Viking Jazz Band” und Chris Barber „White Christmas“, und „When the Saints go marching in“.


Die Verunsicherung und die schmerzlichen Peinlichkeiten der Pubertät noch nicht kennend, ein Vogel, der lernt zu fliegen, und sich an seinen ersten Flugversuchen und Fortschritten berauscht, nichts hemmt seinen Flug. Oder doch? Als Kind bin ich oft krank, langweile mich im Bett und fühle mich einsam, schlapp und schwach, aber Gott sei dank geht es immer wieder bergauf. Meine Mutter pflegt mich, bringt mir zu essen und zu trinken, den Vater sehe ich nicht so oft. Er schaut mal herein und sagt: „ Na, du krankes Hühnchen!“ Meine Mutter, oder mein Vater oder meine Geschwister kommen nicht auf die Idee, sich mit mir zu beschäftigen, mir vor zu lesen, wenn ich krank bin. Da helfen nur die Bücher, die ich selbst lese, sobald es mir besser geht. Meistens Abenteuer-Bücher von Enid Blyton: „Die See“, „der Berg“, „die Insel der Abenteuer“. Die „Fünf Freunde...“ Serie und „das Geheimnis um... “. Eine Gruppe von Kindern klärt Verbrechen auf, in teilweise abenteuerlichen Landschaften. Am Meer, in Ruinen, Höhlen, im Gebirge. Die weite Welt kommt herein, die Kinder sind befreundet, halten zusammen, haben viel Spaß und erleben aufregende Abenteuer, aus denen sie, am Ende, natürlich unversehrt herauskommen. In der Bücherhalle sind diese Bücher meistens ausgeliehen, manchmal habe ich Glück. So ein Buch zu Weihnachten zu bekommen, ist ein Luxus, denn sie sind teuer.
Sorge für’s leibliche Wohl ist selbstverständlich. Andere Wünsche bleiben verborgen. “Das Wasser war viel zu tief“ heißt es in dem Lied „Es waren zwei Königskinder“, das mir meine Mutter vorsang, als ich so vier, fünf Jahre alt war.

Bei den Ursulinen im Gymnasium habe ich gemischte Gefühle. Die Mathematik – Schwester Beatrix ist sehr dynamisch und temperamentvoll und ich fühle mich von so viel Energie etwas eingeschüchtert. Unsere Klassenlehrerin ist weltlich und verheiratet. Sie mag mich, wie sie meiner Mutter beim Elternsprechtag sagt, weil ich so schöne Phantasiegeschichten aus drei Wörtern schreiben kann. So eine Tochter wie mich hätte sie auch gern. Ich bin Zweitbeste in der Klasse, hab lauter Zweien. Mit der Erstbesten, die lauter Einser vorweisen kann, werde ich zur Einweihung des neuen katholischen Erzbischofs geschickt, Ich bin stolz .
In der 7.Klasse fange ich an, mich im Unterricht zu langweilen. Ich halte ausgedehnte Schwätzchen mit meiner Mitschülerin und reagiere trotzig, wenn Frau T. mich ermahnt. Ich falle in Ungnade. Wir wollen ein Theaterstück aufführen, ein Märchen. Jetzt bin ich mit Begeisterung bei der Sache. Die Prinzessinnenrolle kann ich auswendig und ich habe im Gefühl, dass ich sie bekomme. Sie ist mir sozusagen auf den Leib geschrieben. Das findet meine Klassenlehrerin zwar auch, aber sie gibt mir die Rolle nicht, um mich zu strafen. Ich bin wütend und enttäuscht über meine Lehrerin. Ich bekomme keine Sprechrolle und muss einen Hasen spielen. Ich soll gedemütigt werden. Jetzt hab ich keine Lust mehr zur Schule. Ich lass mich hängen und schleppe mich bis zur achten Klasse. Dann bleibe ich sitzen, schon aus Trotz und zur Provokation meines Vaters, der mich dennoch für intelligent genug hält.
Seine Reaktion finde ich gut, auch wenn sie nicht ganz den Tatsachen entspricht. Er murmelt so etwas wie: „Die Nonnen haben dich nicht richtig verstanden …“ und schickt mich auf eine weltliche Schule.


Hinter den Spiegeln
Ich springe Seil auf der Wiese, schneller, immer schneller. Erschöpft halte ich inne und schaue mich um. Das Haus betrete ich durch die angelehnte Tür. Links, im Salon, sitzt sie und liest. Ich schaue vorsichtig in das Zimmer herein. Komm herein! sagt sie ruhig. Ich setze mich in einen Sessel. Mein Blick fällt auf einen Leuchtglobus, der auf dem schweren Eichentisch steht. Ich drehe vorsichtig daran und schaue auf die Länder und Kontinente.
Argentinien, sage ich, wo ist das? Weißt du, in welchem Kontinent es liegt? Ja, freue ich mich, in Südamerika. Ich hab’s schon. Buenes Aires ist die Hauptstadt. Da hab ich Verwandte. Sie haben uns Pakete geschickt, als ich noch sehr klein war. Mit leckerem Milchpulver und so etwas wie Caramel. Das hab ich noch nie gegessen vorher. Und einmal haben sie uns besucht und für uns alle eine Kutsche bestellt. Mit der haben wir einen langen Ausflug auf’s Land gemacht.
Weißt du denn, wie es in Argentinien aussieht? Ich glaube, da ist alles ganz groß und weit. Meine Verwandten haben zwei Landgüter, auf denen Wein wächst. Durch ein Weingut fließt ein Fluss. Da ist alles viel größer als hier.
Ich betrachte mein Kleid und die Schrift auf dem Stoff, streiche über meinen Rock. Oh, darüber könnte ich ja mal in meiner Zeitung schreiben. Dann hab ich ein Kapitel: Aus der weiten Welt!
Sie lächelt zustimmend. Erzähl doch mal von Argentinien!
Meine Tante Eila war vier Jahre in Argentinien. Sie hat zwei ihrer Schwestern begleitet, weil die sehr krank waren, Tuberkulose. Sie brauchten Wärme.
Sie ist mit ihrem Bruder mit dem Schiff gefahren. Auf dem Schiff hat sie den Leuten erzählt, ihr Bruder sei ein Jude, weil er so eine Hakennase hatte. Damit hat sie sich die Zeit vertrieben. In Buenos Aires wollte sie spanisch lernen und hat versucht, sich mit den Marktfrauen zu unterhalten. Das hat ihre Schwester ihr verboten. Sie sollte nicht mit den Marktfrauen sprechen.
Zu uns hat sie immer abends gesagt „A hora me voi, und buenas noches“, das heißt, glaube ich „Ich gehe jetzt und: gute Nacht“. “
Ich fühle mich jetzt wohl und munter, möchte dennoch zurück, nach Hause. „Ich sage jetzt auch „a hora me voi“
Sie steht auf, lächelt mir zu, sagt: Bis zum nächsten Mal! und geht aus dem Salon.
Vor dem Spiegel kneife ich ein Auge zu und laufe nach draußen, um Ballprobe zu spielen.


Zeitlupe

Das weiße Kleid und die Begeisterung, die damit einhergeht, verliert allmählich seinen Zauber. Langsam und scheinbar unbemerkt schleicht sich eine Angst ein, die meine kurz aufgeflammte unbändige Bewegungslust hemmt. Angst ist schon lange meine Begleiterin. Jetzt verändert sie ihr Gesicht.
Frau T. knallt das Klassenbuch auf und zu. Ihre Schwangerschaft ist nicht mehr zu übersehen.
Neuerdings hat sie schlechte Laune, hält uns Moralpredigten. Wir dürfen keine langen Hosen tragen ohne einen Rock darüber, manchmal vergesse ich den Rock, weil ich es so grässlich finde, den Rock über der Hose. Auf der Toilette ziehe ich mich um. Man sieht es dann nicht, wenn ich einen langen Mantel darüber trage.
Beim Sport müssen wir Röcke tragen über dicken blauen Pluderhosen. Manchmal provozieren wir und erscheinen in den schicken, engen und sehr kurzen Stretchhosen. Dann dürfen wir nicht mit turnen.
Ich verstehe nicht, was sie will. Sie hat gesehen, dass sich ein oder zwei Mädchen von der Schule haben abholen lassen, von Jungen. Das Jungengymnasium Carolinum und unsere Schule sind durch eine hohe Mauer getrennt. Man kann nicht darüber schauen.
Was ist schon dabei? Sie sagt nicht, warum es ihr nicht passt. Tobt nutzlos herum.
Sollte sie sich nicht freuen, jetzt, wo sie ein Kind bekommt? Oder ist das so schrecklich?
Ich bin wütend, dass sie auf so unverständliche Weise schimpft. Auch enttäuscht. Ein bisschen ähnelt sie einer bösen Fee.
Meine Achtung vor ihr sinkt.
Ich lerne jetzt Klavier spielen, habe eine sehr nette Lehrerin, geduldig und aufmunternd. Das Üben macht mir Spaß. Meine Eltern sagen, ich habe einen „schönen Anschlag“. Das trägt mich darüber hinweg, wenn ich mein Geklimper manchmal selbst nicht mehr hören kann. Tante Eila, die Schwester meiner Mutter, die seit einigen Jahren bei uns wohnt, - sie ist aus der „Ostzone“ gekommen - schimpft ein bisschen, wenn ich Fehler mache.Tante Eila sitzt nachmittags in ihrem Zimmer und erledigt eine umfangreiche Korrespondenz. Sie schreibt unaufhörlich Briefe an ihre Freundinnen in Borsdorf bei Leipzig und anderen Orten. Außerdem pflegt sie die Kontakte zur Verwandtschaft in Übersee, Argentinien, USA und Schweden.
Dann bekomme ich eine neue Lehrerin, die ungeduldig ist und mürrisch. Gleich sinkt meine Begeisterung und Ausdauer um einige Stufen, bis ich, nach zwei Jahren, aufgebe. Meine Eltern sind verständnisvoll und wollen mich nicht zwingen.
Hätte ich weitergemacht, wenn sie mir Mut gemacht hätten?









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