Zeitlupe:
Meine
Kleidung bekomme ich, wenn sie nicht von der Schneiderin genäht
wird, aus dem Großhandel. Ich weiß nicht, wie meine Eltern zu einem
Berechtigungsschein gekommen sind, jedenfalls gehen wir immer dorthin
zum Einkaufen. Die Sachen sind nicht besonders modisch, nur einmal
hab ich eine Lastexhose mit Keil erstanden, als der Keil schon
unmodern ist. aber sie ist hellbeige und auffällig schick. Dazu gibt
es eine knallblaue, mohairartige Winterjacke, bzw. Kurzmantel. Da das
Schneidern zu teuer wird und ich die Schnitte auch nicht schick genug
finde, fasse ich irgendwann kurzerhand den heroischen Entschluss, mir
selbst ein Kleid zu nähen. Etwas waghalsig, da meine
Handarbeitskünste in der Schule nicht sehr erfolgreich sind. Ich
habe es zu einer akzeptablen Schürze gebracht und ein paar völlig
verwurschtelten Strick- und Häkelarbeiten. Sticken wiederum mag ich
ganz gern, schon allein wegen der schönen bunten Muster, die auf dem
Stoff entstehen. Irgendwie entwickele ich plötzlich den Ehrgeiz,
nicht auf ewig als unauffälliges Gänseblümchen durchs Leben zu
gehen. Ich möchte auffallen und schön sein.
Ob
es die sprießenden Hormone sind oder nur ein gigantischer Wutanfall,
aus dieser Enge, der vorbestimmten Weiblichkeit, zu entfliehen.
Weiblich, das scheint ein Synonym für Hausfrau, brav, angepasst,
ohne Bewegungsfreiheit. Schminken ist zu gefährlich. Ich hebe
innerlich ab, verwandele den Wutanfall, der mir irgendwie nicht
passt, in , ja , in – Flucht, Flucht in die Bücher ist es nicht
mehr, es muss mehr sein, etwas anfassen können, gestalten. Also hebe
ich innerlich ab auf ungefähr 10 Meter über dem Erdboden, lasse
alles Bedrückende, Düstere, Schwere, alle Verbote, böse Worte und
Blicke, auf den Boden sinken. Ich lerne fliegen.
Take
off: der Weg in den Stoffladen, aussuchen, anfassen, das Auge isst
mit. Schnittmuster aussuchen, Garn, Reißverschluss, ab nach Hause!
Dann, während des Fluges: Schnitt ausradeln, ausschneiden, auf den
Stoff legen, befestigen, zuschneiden zusammenheften, anprobieren,
nähen. Alles ohne Turbulenzen, bei schönstem Wetter, sprich,
bester Laune, der Jungfernflug. Landung vorbereiten: Den Gürtel
machen lassen, alles anziehen, Landung geglückt, Applaus für die
Pilotin. War zwar kein sehr hoher Flug, am Boden noch alles im Blick
gehabt, aber, jetzt, Betreten des Neulands. Beim Verlassen des
Flugzeugs weht der Rock, ist da unten nicht ein roter Teppich?
Ich
nehme an einem Austausch nach Schweden teil und das hellblaue Kleid
mit. Tiia, meine Austauschpartnerin stiehlt mir zwar trotzdem die
Show bei Tanzveranstaltungen, weil sie sehr blond und sexy aussieht,
aber letztlich gibt mir der Erfolg einen enormen Anschub, es nun
weiter zu versuchen. Plötzlich kriege ich auch Rückenwind von
meinen Eltern, die diese neu aufgetauchte Tugend unterstützen. Meine
Mutter bewundert mich dafür, meint, ich hätte das Talent meiner
Urgroßmutter Anna Tetzlaff geerbt, die sogar Uniformen nähen
konnte, ihre acht bis zehn Kinder rundum benäht hatte nebst der
Tatsache, dass sie all ihre Kinder ein Jahr lang gestillt haben soll.
Also
habe ich doch endlich ein weibliches Pfund, das mir gefällt, mit dem
ich wuchern kann, zwar ein ererbtes, aber immerhin. Danke dafür,
liebe Anna Tetzlaff! Zum Ausgleich dazu sind mir, wie gesagt, alle
Hausarbeiten ein Gräuel, kochen, einkaufen und putzen. Den
„Handarbeiten“ wie nähen, stricken und häkeln kann ich eine
Menge abgewinnen, da sie mich, unter anderem, auf direktem Wege dem
begehrten männlichen Geschlecht näher bringen.
Ich
trage eine Kurzhaarfrisur, sehe ein bisschen wie ein Junge aus. Es
gefällt mir sehr gut in Hälsingborg. Die Eltern meiner
Austauschpartnerin sind Esten. Sie sprechen zu Hause estisch. Die
Großmutter spricht noch deutsch. Meine Freundin Tiia spricht auch
sehr gut deutsch. Wir fahren nach Helsingör in Dänemark zum Tanzen,
setzen mit dem Schiff über. Ich habe mein hellblaues Kleid an. Wir
gehen in ein Tanzlokal. Tiia wird sofort zum Tanzen aufgefordert. Ich
sitze ein wenig schüchtern und vielleicht auch ein wenig abweisend
da. Das blaue Kleid kommt mir jetzt doch etwas kindlich vor. Tiia
sieht viel damenhafter und älter aus. Dabei sind wir beide sechzehn.
Trotzdem finde ich es toll, was wir hier alles unternehmen. Der
Sommer ist schön, wir gehen jeden Tag in eine Badeanstalt. Das
Schönste sind die Sandwiches, die wir mitbekommen. Brote mit
Salatblättern, Fleisch oder Käse und Remoulade. Einmal gibt es
abends ein großes Essen mit Familie und Verwandten. Ein großer
Fisch mit entsetzlich vielen Gräten liegt auf meinem Teller. Vor
lauter Gräten kann ich kaum etwas essen. Danach, abends spät, gibt
es Torten und Kaffee. Ich bin beeindruckt.
Tiia
und ich fahren nach Kopenhagen und besuchen das Tivoli, den
Freizeitpark. Wir lernen zwei attraktive deutsche Jungen kennen.
Einer hat schwarzes Haar, den mag ich gern, Tiia den Blonden. Es
macht Spaß, mit den Jungen durch’s Tivoli zu streifen. Es gibt ein
Jazzfestival in der Umgebung von Hälsingborg. Auf einer großen
Wiese stehen Buden und Bühnen. Man kann sich ganz gut verlaufen.
Gibt es so was in Deutschland überhaupt? Jazzfestivals? Ich hab noch
von keinem gehört. Das ist hier alles supermodern!
Hinter
den Spiegeln
Sie
sitzt in unserer Küche, in unserer kleinen Fünfziger –Jahre-
Sozialer Wohnungsbau Neubau – Küche und liest einen Brief. Sie –
ist ein junges Mädchen mit altmodischen Zöpfen und einem sehr
altmodischen Kleid. Sie kichert laut und ausgelassen. Hallo, wer bist
du? Frage ich sie. Ich? Ich bin Bibi, Die Heldin aus den Büchern von
Karin Michaelis. Bibi? frage ich ungläubig, ich kenne nur Pippi
Langstrumpf. Ja, das ist meine kleine Schwester, oder halb oder
viertel Schwester oder so was. Ich hab sie nie gesehen, hab aber von
ihr gehört. Sie soll mir ziemlich ähnlich sein. Ich lese gerade
einen Brief von meiner Freundin Valborg, die gerade in Frankreich
ist, hör mal: „……Da bekam Monsieur plötzlich einen Rappel und
wollte fein sein. Er zog zur Stadt mit seiner Pompadour, und wir
anderen sollten uns wie zu einer feinen Gesellschaft umkleiden.
Angèle und ich stürzten uns auf die Kisten mit feinen Kleidern, die
wohl auch zur Erbschaft gehörten. Wir wühlten so lange darin herum,
bis wir ein paar Prachttoiletten mit Fischbein und allen möglichen
Kinkerlitzchen fanden. Madame besitzt noch einige Kleider, die das
Tageslicht nicht zu scheuen brauchen, sie brauchte also nichts von
dem Zeug. Angèle beschäftigte sich eine geschlagene Stunde lang mit
meiner Frisur, dann schmierte sie mir so viel Creme ins Gesicht, dass
die Sommersprossen darunter begraben wurden. Sie zog mir die
Augenbrauen hoch und legte Rouge auf die Lippen, der Mund wurde so
ungeheuer, dass ich meine eigene Urgroßmutter hätte verschlingen
können. Natürlich auch noch ein paar rote Kleckse auf die Backen
und etwas Blau auf die Lider, das macht nämlich besonders
interessant. Seidenschühchen, spitz wie Nähnadeln und mit Absätzen
wie Champagnerpfropfen. Hier kannst du sehen, wie sie mich
ausstaffiert hat und wie ich aussehe, wenn ich ich selber bin.“
Bibi
ist plötzlich verschwunden, aber das Buch liegt noch da. Ich schaue
mir die lustigen Zeichnungen an und schaue auf den Deckel. Bibi und
ihre Freundinnen, von Karin Michaelis, steht da, und auf der zweiten
Seite: Karin Michaelis, Schriftstellerin, Journalistin und
Mädchenbuchautorin (1872 -1950). Ich blättere weiter und fange an
zu lesen.
Vor
dem Spiegel schneide ich Grimassen. In einem Mädchenbuch, das ich
von meinen Eltern bekommen habe, steht, dass der Spiegel uns dienen
soll, aber nicht beherrschen. Ich drohe meinem Spiegelbild mit dem
Zeigefinger: Du bist mein Diener, verstanden! Dann fange ich
vergnügt an zu kichern. Der Diener kichert zurück.