Samstag, 20. Oktober 2012

5. Kapitel Das hellblaue Kleid



Zeitlupe:

Meine Kleidung bekomme ich, wenn sie nicht von der Schneiderin genäht wird, aus dem Großhandel. Ich weiß nicht, wie meine Eltern zu einem Berechtigungsschein gekommen sind, jedenfalls gehen wir immer dorthin zum Einkaufen. Die Sachen sind nicht besonders modisch, nur einmal hab ich eine Lastexhose mit Keil erstanden, als der Keil schon unmodern ist. aber sie ist hellbeige und auffällig schick. Dazu gibt es eine knallblaue, mohairartige Winterjacke, bzw. Kurzmantel. Da das Schneidern zu teuer wird und ich die Schnitte auch nicht schick genug finde, fasse ich irgendwann kurzerhand den heroischen Entschluss, mir selbst ein Kleid zu nähen. Etwas waghalsig, da meine Handarbeitskünste in der Schule nicht sehr erfolgreich sind. Ich habe es zu einer akzeptablen Schürze gebracht und ein paar völlig verwurschtelten Strick- und Häkelarbeiten. Sticken wiederum mag ich ganz gern, schon allein wegen der schönen bunten Muster, die auf dem Stoff entstehen. Irgendwie entwickele ich plötzlich den Ehrgeiz, nicht auf ewig als unauffälliges Gänseblümchen durchs Leben zu gehen. Ich möchte auffallen und schön sein.
Ob es die sprießenden Hormone sind oder nur ein gigantischer Wutanfall, aus dieser Enge, der vorbestimmten Weiblichkeit, zu entfliehen. Weiblich, das scheint ein Synonym für Hausfrau, brav, angepasst, ohne Bewegungsfreiheit. Schminken ist zu gefährlich. Ich hebe innerlich ab, verwandele den Wutanfall, der mir irgendwie nicht passt, in , ja , in – Flucht, Flucht in die Bücher ist es nicht mehr, es muss mehr sein, etwas anfassen können, gestalten. Also hebe ich innerlich ab auf ungefähr 10 Meter über dem Erdboden, lasse alles Bedrückende, Düstere, Schwere, alle Verbote, böse Worte und Blicke, auf den Boden sinken. Ich lerne fliegen.
Take off: der Weg in den Stoffladen, aussuchen, anfassen, das Auge isst mit. Schnittmuster aussuchen, Garn, Reißverschluss, ab nach Hause! Dann, während des Fluges: Schnitt ausradeln, ausschneiden, auf den Stoff legen, befestigen, zuschneiden zusammenheften, anprobieren, nähen. Alles ohne Turbulenzen, bei schönstem Wetter, sprich, bester Laune, der Jungfernflug. Landung vorbereiten: Den Gürtel machen lassen, alles anziehen, Landung geglückt, Applaus für die Pilotin. War zwar kein sehr hoher Flug, am Boden noch alles im Blick gehabt, aber, jetzt, Betreten des Neulands. Beim Verlassen des Flugzeugs weht der Rock, ist da unten nicht ein roter Teppich?
Ich nehme an einem Austausch nach Schweden teil und das hellblaue Kleid mit. Tiia, meine Austauschpartnerin stiehlt mir zwar trotzdem die Show bei Tanzveranstaltungen, weil sie sehr blond und sexy aussieht, aber letztlich gibt mir der Erfolg einen enormen Anschub, es nun weiter zu versuchen. Plötzlich kriege ich auch Rückenwind von meinen Eltern, die diese neu aufgetauchte Tugend unterstützen. Meine Mutter bewundert mich dafür, meint, ich hätte das Talent meiner Urgroßmutter Anna Tetzlaff geerbt, die sogar Uniformen nähen konnte, ihre acht bis zehn Kinder rundum benäht hatte nebst der Tatsache, dass sie all ihre Kinder ein Jahr lang gestillt haben soll.
Also habe ich doch endlich ein weibliches Pfund, das mir gefällt, mit dem ich wuchern kann, zwar ein ererbtes, aber immerhin. Danke dafür, liebe Anna Tetzlaff! Zum Ausgleich dazu sind mir, wie gesagt, alle Hausarbeiten ein Gräuel, kochen, einkaufen und putzen. Den „Handarbeiten“ wie nähen, stricken und häkeln kann ich eine Menge abgewinnen, da sie mich, unter anderem, auf direktem Wege dem begehrten männlichen Geschlecht näher bringen.

Ich trage eine Kurzhaarfrisur, sehe ein bisschen wie ein Junge aus. Es gefällt mir sehr gut in Hälsingborg. Die Eltern meiner Austauschpartnerin sind Esten. Sie sprechen zu Hause estisch. Die Großmutter spricht noch deutsch. Meine Freundin Tiia spricht auch sehr gut deutsch. Wir fahren nach Helsingör in Dänemark zum Tanzen, setzen mit dem Schiff über. Ich habe mein hellblaues Kleid an. Wir gehen in ein Tanzlokal. Tiia wird sofort zum Tanzen aufgefordert. Ich sitze ein wenig schüchtern und vielleicht auch ein wenig abweisend da. Das blaue Kleid kommt mir jetzt doch etwas kindlich vor. Tiia sieht viel damenhafter und älter aus. Dabei sind wir beide sechzehn. Trotzdem finde ich es toll, was wir hier alles unternehmen. Der Sommer ist schön, wir gehen jeden Tag in eine Badeanstalt. Das Schönste sind die Sandwiches, die wir mitbekommen. Brote mit Salatblättern, Fleisch oder Käse und Remoulade. Einmal gibt es abends ein großes Essen mit Familie und Verwandten. Ein großer Fisch mit entsetzlich vielen Gräten liegt auf meinem Teller. Vor lauter Gräten kann ich kaum etwas essen. Danach, abends spät, gibt es Torten und Kaffee. Ich bin beeindruckt.
Tiia und ich fahren nach Kopenhagen und besuchen das Tivoli, den Freizeitpark. Wir lernen zwei attraktive deutsche Jungen kennen. Einer hat schwarzes Haar, den mag ich gern, Tiia den Blonden. Es macht Spaß, mit den Jungen durch’s Tivoli zu streifen. Es gibt ein Jazzfestival in der Umgebung von Hälsingborg. Auf einer großen Wiese stehen Buden und Bühnen. Man kann sich ganz gut verlaufen. Gibt es so was in Deutschland überhaupt? Jazzfestivals? Ich hab noch von keinem gehört. Das ist hier alles supermodern!

Hinter den Spiegeln

Sie sitzt in unserer Küche, in unserer kleinen Fünfziger –Jahre- Sozialer Wohnungsbau Neubau – Küche und liest einen Brief. Sie – ist ein junges Mädchen mit altmodischen Zöpfen und einem sehr altmodischen Kleid. Sie kichert laut und ausgelassen. Hallo, wer bist du? Frage ich sie. Ich? Ich bin Bibi, Die Heldin aus den Büchern von Karin Michaelis. Bibi? frage ich ungläubig, ich kenne nur Pippi Langstrumpf. Ja, das ist meine kleine Schwester, oder halb oder viertel Schwester oder so was. Ich hab sie nie gesehen, hab aber von ihr gehört. Sie soll mir ziemlich ähnlich sein. Ich lese gerade einen Brief von meiner Freundin Valborg, die gerade in Frankreich ist, hör mal: „……Da bekam Monsieur plötzlich einen Rappel und wollte fein sein. Er zog zur Stadt mit seiner Pompadour, und wir anderen sollten uns wie zu einer feinen Gesellschaft umkleiden. Angèle und ich stürzten uns auf die Kisten mit feinen Kleidern, die wohl auch zur Erbschaft gehörten. Wir wühlten so lange darin herum, bis wir ein paar Prachttoiletten mit Fischbein und allen möglichen Kinkerlitzchen fanden. Madame besitzt noch einige Kleider, die das Tageslicht nicht zu scheuen brauchen, sie brauchte also nichts von dem Zeug. Angèle beschäftigte sich eine geschlagene Stunde lang mit meiner Frisur, dann schmierte sie mir so viel Creme ins Gesicht, dass die Sommersprossen darunter begraben wurden. Sie zog mir die Augenbrauen hoch und legte Rouge auf die Lippen, der Mund wurde so ungeheuer, dass ich meine eigene Urgroßmutter hätte verschlingen können. Natürlich auch noch ein paar rote Kleckse auf die Backen und etwas Blau auf die Lider, das macht nämlich besonders interessant. Seidenschühchen, spitz wie Nähnadeln und mit Absätzen wie Champagnerpfropfen. Hier kannst du sehen, wie sie mich ausstaffiert hat und wie ich aussehe, wenn ich ich selber bin.“
Bibi ist plötzlich verschwunden, aber das Buch liegt noch da. Ich schaue mir die lustigen Zeichnungen an und schaue auf den Deckel. Bibi und ihre Freundinnen, von Karin Michaelis, steht da, und auf der zweiten Seite: Karin Michaelis, Schriftstellerin, Journalistin und Mädchenbuchautorin (1872 -1950). Ich blättere weiter und fange an zu lesen.
Vor dem Spiegel schneide ich Grimassen. In einem Mädchenbuch, das ich von meinen Eltern bekommen habe, steht, dass der Spiegel uns dienen soll, aber nicht beherrschen. Ich drohe meinem Spiegelbild mit dem Zeigefinger: Du bist mein Diener, verstanden! Dann fange ich vergnügt an zu kichern. Der Diener kichert zurück.

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